Laut Bundeskriminalamt erleidet jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben sexualisierte Gewalt. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß niemand genau, weil viele Frauen sich oft niemandem oder erst sehr spät jemandem anvertrauen, wenn ihnen so etwas widerfahren ist. Die Lübecker Studentinnen Greta Mostert, Maren Festersen, Frederike Römer, Olga van Wees und Lena Döling klären in ihrer Aktion “Ich guck’ nicht weg” mit Online-Vorträgen und -Workshops über das Thema auf.
Wie habt ihr als Gruppe zusammengefunden?
Wir studieren alle an der Uni Lübeck Medizin. Das Thema sexualisierte Gewalt beschäftigt viele unserer Kommilitoninnen, weil wir als Ärztinnen später ja auch eine gewisse soziale Verantwortung haben, etwas gegen dieses Problem zu tun. Wir haben aber auch gemerkt, dass das auch viele junge Frauen außerhalb der Medizin umtreibt. Mit dem Thema haben wir uns dann an den Verein “VICTOR Lübeck” gewendet, der uns Studierenden immer dabei hilft, solche Aktionen auf die Beine zu stellen.
Eure Themenwoche heißt: “Ich guck’ nicht weg”. Wird noch zu oft weggeguckt, wenn es um sexualisierte Gewalt geht?
Ja! Sexualisierte Gewalt ist oft noch ein Tabuthema, sodass Opfer sich oft schämen für das, was passiert ist und die Schuld zuerst bei sich suchen. Manche Frauen brauchen bis zu sechs Anläufe, sich jemandem anzuvertrauen, wenn ihnen Gewalt widerfahren ist. Die fehlende Sensibilität führt auch dazu, dass Anzeichen sexualisierter Gewalt oft zu spät erkannt werden.
Ist sexualisierte Gewalt ein Thema in eurem Medizinstudium?
Wir lernen am Fachgebiet Rechtsmedizin alles zum Umgang mit Patientinnen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Das war im Studium tatsächlich auch neu für uns, dass die Rechtsmediziner die Ansprechpartner für dieses Thema sind.
Was können Medizinerinnen dazu beitragen, Vorfälle sexualisierter Gewalt aufzuklären oder sogar zu verhindern?
In ihren Praxen können Ärztinnen eine Vertrauensbasis für ihre Patientinnen schaffen, indem sie schon im Wartezimmer Plakate aufhängen und Flyer auslegen, die auf Hilfsangebote hinweisen. Außerdem sollten gerade Hausärztinnen sensibel für Anzeichen von häuslicher Gewalt und Missbrauch sein, weil die Täter häufig aus dem direkten Umfeld der Opfer kommen. Bei Risikofaktoren wie früheren Gewalterfahrungen oder Drogenmissbrauch gilt es, besonders aufmerksam zu sein. In Schleswig-Holstein gibt es außerdem das KIK, das Kooperations- und Interventionskonzept bei häuslicher Gewalt. Das sichert die Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen und Einrichtungen, die mit häuslicher Gewalt befasst sind. Die arbeiten zum Beispiel daran, dass es in Krankenhäusern ein standardisiertes Verfahren gibt, mit dem bei Opfern einer Vergewaltigung Spuren gesichert werden.
Welche Rolle spielen Männer im Kampf gegen sexualisierte Gewalt?
Vielen Männern ist gar nicht bewusst, wenn sie eine Grenze überschreiten. Wenn wir aber nicht über dieses Problem sprechen, ändert sich daran auch nichts. Es hilft nicht, sich nur übereinander aufzuregen. Wichtig ist, miteinander eine Strategie gegen sexualisierte Gewalt zu finden. Wenn Männer Teil des Problems sind, sind sie auch Teil der Lösung. Und es hat sicherlich auch etwas mit der Sozialisierung vieler Männer zu tun. 90 Prozent der Gewalt, die sie erleben, geht von anderen Männer aus. Eine Erziehung hin zu mehr Empathie könnte helfen.
Was kann die Stadt Lübeck tun?
Es gibt schon viele gute Hilfsangebote, die von hoch motivierten Mitarbeiterinnen betreut werden. Allerdings sind viele dieser Angebote chronisch unterfinanziert, zum Beispiel der Frauennotruf. Für eine langfristige Prävention müsste man schon bei jungen Menschen ansetzen und sie für das Problem sensibilisieren. Aber das Ziel, dass sich etwas zum Positiven verändert, ist auf jeden Fall realistisch.